[New Commerce]

Temu: Der neue Gigant im Onlinehandel

Von Prof. Chris­toph Tripp

Während sich die Shopping-Apps von Wish und Shein bereits in Deutsch­land etabliert haben, ist der chine­si­sche Onlinehandels-Marktplatz Temu hier­zu­lande noch wenig bekannt. Doch das Unter­nehmen drängt jetzt mit Macht in Europas E‑Commerce-Kernmärkte.

Der Ansatz dabei ist einfach: Das Unter­nehmen will ein enorm breites Spek­trum an Nonfood-Artikeln zu äußerst geringen Preisen anbieten und direkt aus China an Endkunden liefern.

Citylogistik
Die Shopping-Plattform Temu nimmt Europa ins Visier.
© dpa/NurPhoto | Jakub Porzycki

Temu ist Teil der in China ansäs­sigen Konzern­gruppe PDD Holdings, zu der auch Pinduoduo, eine beliebte Online-Handelsplattform in China, gehört. Anders als bei Shein war Temu lange Zeit nur im Heimat­markt in China im E‑Commerce aktiv. Im September vergan­genen Jahres star­tete das Unter­nehmen erst­malig mit einer Shopping-Plattform in einem wich­tigen Auslands­markt, nämlich in den USA. Mit dem Werbe­slogan „Shop like a Billionaire“ warb Temu dort unter anderem im Rahmen des pres­ti­ge­träch­tigen Super-Bowl-Wettbewerbs. Im März 2023 star­tete das Geschäft in Austra­lien und Neusee­land, seit April 2023 ist Temu in Frank­reich, Italien, Deutsch­land, den Nieder­landen, Spanien und Groß­bri­tan­nien präsent. Mitt­ler­weile steht die App in fast allen genannten Ländern auf den Spit­zen­plätzen der Shop­ping App Down­load Charts.

Das Geschäfts­mo­dell

Temu ist keine Shopping-App und keine Social-Media-Anwendung, sondern eine Kombi­na­tion aus beidem in Form einer soge­nannten Social Media Commerce Plat­form. Das Konzept unter­scheidet sich dabei deut­lich von den bekannten Shopping-Apps im E‑Commerce: Das Unter­nehmen setzt bewusst auf eine Mischung aus Social-Media-initiierter Bedarfs­we­ckung (zum Beispiel massiv über Tiktok), spie­le­ri­schem Einkaufen (Gami­fi­ca­tion) und einem intel­li­gent lancierten Schnee­ball­prinzip (über soge­nannte Affiliate-Codes).

Temu sprintet an die Spitze

Die belieb­testen mobilen Apps in den USA nach Anzahl der Down­loads im März 2023 in Millionen

  • Temu 10,0 100% 100%
  • Tiktok 7,4 74% 74%
  • Capcut 6,7 67% 67%
  • Shein 6,3 63% 63%
  • Whatsapp 5,8 58% 58%
  • Insta­gram 5,8 58% 58%
  • Roblox 5,5 55% 55%
  • Cash App 5,3 53% 53%
  • Attack Hole 5,2 52% 52%
  • Snap­chat 4,7 47% 47%

Quelle: Apptopia via Statista

Zur Eröff­nung in Deutsch­land bietet Temu umfang­reiche Rabatte: 8 Euro Rabatt bei Waren­körben ab 60 Euro, 20 Euro Rabatt ab 100 Euro und 40 Euro ab einem Einkaufs­wert von 150 Euro. Auch Versand­kosten werden momentan als kostenlos beworben, mit einer verspro­chenen Versand­dauer von durch­schnitt­lich einer Woche und einer Rück­nah­me­ga­rantie inner­halb von 90 Tagen. Neben den Coupon-Rabattaktionen und den zusätz­li­chen diversen Rabatt­mög­lich­keiten in den Gamification-Features inves­tiert die Platt­form zudem in ein soge­nanntes Ambassador-Programm. Dabei werden in den USA dieje­nigen, die Neukunden akqui­rieren, mit Beloh­nungen im Wert von bis zu 1.000 US-Dollar gelockt.

Nach Exper­ten­aus­sagen liegen die Preise bei Temu teils bis zu 80 Prozent unter denen mehr oder weniger vergleich­barer Artikel bei Wett­be­wer­bern. Das Sorti­ments­spek­trum erstreckt sich über alle Kate­go­rien und reicht von Fashion- und Beauty-Artikeln über Consumer Elec­tro­nics und Baumarkt­ar­tikel bis hin zu Haus­halts­waren. Täglich kommen Tausende neuer Artikel hinzu, ähnlich wie man es von den anderen bekannten Shopping-Apps (Wish, Shein) bereits kennt. Die Qualität wird von Verbrau­chern oftmals als eher minder­wertig einge­stuft, zumin­dest ist das den zahl­rei­chen Kommen­taren in den Social Media Apps zu entnehmen.

Per Luft­fracht in die Zielmärkte

Temu fungiert ausschließ­lich als Markt­platz­mo­dell, das den über­wie­gend chine­si­schen Liefe­ranten und Herstel­lern die Reich­weite, die Tech­no­logie, die Vermark­tung und die logis­ti­sche Abwick­lung bietet. Die Platt­form erhebt dafür eine Provi­si­ons­ge­bühr von den Herstel­lern, die auf etwa 25 bis 30 Prozent des Verkaufs­preises geschätzt wird.

Über die logis­ti­sche Abwick­lung von Temu ist bisher wenig bekannt. Es wird aller­dings davon ausge­gangen, dass das Unter­nehmen die Waren chine­si­scher Liefe­ranten in Fulfillment-Centern in China vorhält. Von dort aus werden sie über asia­ti­sche Logis­tik­dienst­leister per Luft­fracht in die Ziel­märkte versendet und dort über ansäs­sige Brief- und Paket­dienste wie zum Beispiel DHL in Deutsch­land zuge­stellt. Die Liefer­zeiten betragen sieben bis zehn Tage, sodass ein Trans­port über Container-Seefrachtverkehre ausge­schlossen ist.

Der Logis­tik­partner

Bei Recher­chen findet sich immer wieder der Name J&T Express. Der schnell wach­sende Logis­tik­dienst­leister wurde im August 2015 gegründet und konzen­triert sich auf Express­dienst­leis­tungen und grenz­über­schrei­tende Logistik. Das Netz­werk von J&T Express erstreckt sich mitt­ler­weile über 13 Länder. Dazu gehören China, Indo­ne­sien, Vietnam, Malaysia, Thai­land, die Phil­ip­pinen, Kambo­dscha, Singapur, die Verei­nigten Arabi­schen Emirate, Saudi-Arabien, Brasi­lien, Mexiko und Ägypten. J&T stellte im März das erste reine Fracht­flug­zeug in Dienst und wird mitt­ler­weile auf einen Wert von 10 Milli­arden Dollar taxiert.

Folgen des Markteinstiegs

Alex­ander Graf, bekannter E‑Commerce-Experte, schrieb jüngst in einem LinkedIn-Post: „Die Amazon-App öffnet man, wenn man etwas Bestimmtes braucht. Die Temu-App öffnet man, ohne zu wissen, was man gleich kaufen wird.“ In diesem Satz stecken zahl­reiche Erkennt­nisse, die für Online­händler von hoher Rele­vanz sind:

Erstens konzen­triert sich Temu weniger auf die bislang im Online­handel bekannte Bedarfs­de­ckung, sondern auf die von vielen, vor allem statio­nären Händ­lern verfolgte Stra­tegie der Bedarfs­we­ckung und der Spon­tan­käufe. Dies soll durch den Mix aus Gami­fi­ca­tion, Schnee­ball­prinzip, Rabatten, riesiger Arti­kel­aus­wahl und maximal güns­tigen Preisen gelingen.

Zwei­tens setzt die Platt­form dabei auf die Befrie­di­gung grund­le­gender mensch­li­cher Bedürf­nisse und Triebe: Kommu­ni­ka­tion, Neugier und Beloh­nung sind die heim­li­chen Eckpfeiler des Geschäfts­mo­dells und sollen für schnelles Wachstum sorgen.

Drit­tens gibt es in Europa und den USA keine vergleich­bare Social-Commerce-Plattform, die die Klaviatur aus Kunden­an­sprache, Aware­ness und Arti­kel­spek­trum so gut vereint und bespielt wie Temu. Das Unter­nehmen könnte also ein Bench­mark für die künf­tige Entwick­lung des Online­han­dels in Rich­tung eines „discovery-based online shop­ping“ sein, in dem auch das Meta­verse als inte­grierter Bestand­teil seinen Platz finden könnte.

Vier­tens sollten Händler die Platt­form nicht ausschließ­lich als Gefahr für das eigene Geschäfts­mo­dell sehen, sondern über­legen, was sie daraus für den eigenen Online­handel lernen können und wie sie sich selbst posi­tio­nieren. Zwar richtet sich Temu bislang vor allem an die jungen Gene­ra­tionen Z und Alpha, die Ange­bote werden aber vermut­lich auch in anderen Gene­ra­tionen einen gewissen Anklang finden und genutzt werden. Niemand weiß, ob, wann und wie die hohen Down­load­raten der App und die massiven Marke­ting­in­ves­ti­tionen in Umsätzen und Gewinnen für Temu wirk­lich sichtbar werden. Nichtstun wäre aller­dings fatal, denn es besteht die Gefahr, dass der deut­sche Online­handel ansonsten die Entwick­lung eines neuen Markt­stan­dards verpasst und wieder mal nur Nach­zügler und nicht Inno­va­ti­ons­führer ist.

Fünf­tens könnten sich neue Markt­chancen für Logis­tik­dienst­leister und ihre Fulfillment- sowie Zustell­ge­schäfte ergeben. Bei stei­gendem Mengen­wachstum nimmt die Bedeu­tung leis­tungs­fä­higer Logis­tik­netz­werke für Temu in Europa zu. Es ist aktuell nicht zu erkennen, dass das Unter­nehmen in wesent­liche eigene Logis­tik­res­sourcen in Europa inves­tiert. Nach den Vorbil­dern des „Chinese Speed“, wie zum Beispiel Alibaba (mit Ali Express) oder Tencent (mit JD.com), wäre im nächsten Schritt der Aufbau ausge­wählter Distri­bu­ti­ons­zen­tren zu erwarten, um die Topseller-Artikel schneller zu Endkunden liefern zu können.

Prof. Chris­toph Tripp

Der Experte ist Professor für Distributions- und Handels­lo­gistik an der Tech­ni­schen Hoch­schule Nürn­berg. Er verfügt über lang­jäh­rige Praxis- und Bera­tungs­er­fah­rungen in der Logis­tik­wirt­schaft und fungiert dort regel­mäßig als Gutachter, Mode­rator, Inter­view­partner, Podcaster, Refe­rent und Trainer. Tripp ist zudem Autor des 2021 in der zweiten Auflage erschie­nenen Fach­bu­ches „Distributions- und Handels­lo­gistik – Netz­werke und Stra­te­gien der Omnichannel-Distribution im Handel“.